9) „Hi bear“ & Oregon
- Yann Roma
- vor 5 Tagen
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Aktualisiert: vor 4 Tagen

Nach zwei Tagen wohlverdienter Pause und mehreren Fussbädern in Burney ging es zurück auf den Trail. Der Weg führte durch dichten Wald in Richtung Burney Falls – ein beliebtes Ausflugsziel, denn die Wasserfälle sind wirklich beeindruckend. Doch bevor ich sie erreichte, blieb ich plötzlich regungslos stehen. Etwa 15 Meter vor mir schlendert ein Schwarzbär ganz gemütlich durch den Wald. Ich hatte ihn gesehen, aber er mich offenbar nicht.
Was tun? Einfach still stehen bleiben und abwarten, oder mich bemerkbar machen? Ich entschied mich für Letzteres. Mit einem ruhigen „Hi Bear“ (ja, ich dachte mir, Englisch versteht er vermutlich besser als Deutsch – haha) machte ich mich bemerkbar. Der Bär reagierte sofort, drehte sich um und verschwand zwischen den Bäumen. Noch 20 Sekunden später hörte ich das Krachen von Ästen unter seinen schweren Pfoten.
Einen Bären auf dem PCT zu sehen war nicht unwahrscheinlich – aber so nah hatte ich mir das nicht vorgestellt. Oliver war zu dem Zeitpunkt ein paar Minuten hinter mir unterwegs.
Nach einem kurzen Zwischenstopp bei den Burney Falls ging es bergauf zu unserem Zeltplatz für die Nacht – mit atemberaubender Aussicht auf den mächtigen Mount Shasta, einen markanten, meist schneebedeckten Stratovulkan im Norden Kaliforniens. Der imposante Berg begleitete uns noch über mehrere Tage hinweg – immer wieder tauchte er zwischen den Bäumen oder über Hügelkämmen am Horizont auf.
Der Trail führte uns meist über Kämme, teils durch Schnee, teils durch verbrannte Wälder – aber es gab auch Abschnitte, die wunderbar instand gehalten waren und sich herrlich laufen liessen.
An einem Tag traf ich Caro, eine Schweizerin aus Laax. Sie hatte bereits 2022 den Abschnitt von der mexikanischen Grenze bis Shasta bewältigt und wollte nun den Rest bis Kanada vollenden.
Einige Tage später sah ich erneut einen Bären – diesmal aber aus sicherer Entfernung. Auch dieser verschwand gemächlich, sobald er mich bemerkte.
Am Tag 85 erreichten Oliver und ich schliesslich die Grenze zu Oregon – Kalifornien lag endlich hinter uns.
Nordkalifornien war sowohl körperlich als auch mental sehr fordernd: schmerzende Füsse, unzählige Blowdowns (umgestürzte Bäume), monotone und teils trostlose Waldbrandgebiete, stark überwucherte Abschnitte und immer wieder Schnee.
Umso grösser die Freude, nun Oregon betreten zu dürfen – ein Bundesstaat, der für seine flachen Etappen, viel Grün und leider auch für seine Mücken bekannt ist. Nach einem halben Tag auf dem Trail gönnten wir uns erst einmal einen Ruhetag in Ashland.
In Oregon begannen wir Versorgungspakete an strategische Orte zu schicken – vor allem an Resorts oder kleinere Poststellen entlang des Trails. Denn Einkaufsmöglichkeiten sind oft rar oder sehr eingeschränkt.
Zurück auf dem Trail zeigte sich Oregon zunächst von seiner besten Seite: flach, grün, gut gepflegte Wege – ganz anders als die Wochen zuvor. Doch diese Leichtigkeit war schnell vorbei.
Am Nachmittag des nächsten Tages begann es zu schneien – zunächst leicht, dann immer stärker. Leider war ich nicht besonders geschickt und viele meiner Sachen wurden nass. Besonders abends schneite es heftig – immer wieder musste ich Schnee vom Zelt schütteln.
Zwar hatten wir die Wettervorhersage gesehen, aber mit so viel Schnee am 21. Juni hatten wir nicht gerechnet. Am nächsten Morgen überlegten wir, ob wir im Zelt bleiben oder weiterlaufen sollten – trotz der Prognose für weiteren Schneefall. Der Weg bis zum Crater Lake Campground, wo wir eventuell in einer Hütte unterkommen könnten, war noch lang – mit tiefem Schnee auf einigen Abschnitten.
Trotzdem entschieden wir uns fürs Weiterlaufen. Teilweise lagen bis zu 15 cm Neuschnee auf dem Trail. Es war eiskalt und wir bereuten, einige unserer warmen Kleidungsstücke nach den Sierras nach Seattle vorausgeschickt zu haben.
Wir fanden schliesslich einen kleinen schneefreien Platz zum Zelten. Zum Glück blieb meine Wanderhose, meine Daunenjacke und mein Schlafsack halbwegs trocken – ein entscheidender Faktor in dieser kalten Nacht.
Am folgenden Tag erreichten wir den Crater Lake Campground – dort konnten wir spontan ein Zimmer in einer Hütte nehmen und unsere Sachen in der Sonne trocknen.
Crater Lake, den wir tags darauf besuchten, ist ein echtes Highlight – der tiefste See der USA und einer der klarsten der Welt. Er liegt zwar nicht direkt auf dem PCT, aber fast jeder Hiker macht diesen lohnenswerten Abstecher.
Weiter ging es in Richtung Mount Thielsen, vorbei an verschneiten Traversen und mit beeindruckender Aussicht auf Oregons weite Landschaft. Hier erreichten wir auch den höchsten Punkt des PCT in Oregon auf etwa 2.240 Metern.
Die Nacht verbrachten wir an einem See – mit einer Mückenplage, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Zelt aufbauen, reinspringen, Reissverschluss zu – das war der einzige Weg, um halbwegs ungestochen davonzukommen. Insgesamt gab es etwa zweieinhalb Tage, an denen die Mücken schier unerträglich waren – aber auch das gehört wohl zum PCT-Erlebnis dazu.
Am nächsten Tag liefen wir über 50 Kilometer durch dichten Wald – ohne auch nur einmal eine Aussicht zu haben. Ein ungewohnt monotones, fast meditatives Erlebnis.
Dann näherten wir uns den Three Sisters, einer markanten Vulkanformation bestehend aus drei benachbarten Gipfeln – South Sister, Middle Sister und North Sister. Die Landschaft veränderte sich drastisch: Lavafelder, schwarze Basaltplatten, weite, karge Flächen – eine faszinierende Abwechslung zum grünen Oregon. Der Untergrund war technisch anspruchsvoller und die Schuhe litten, aber der Anblick war jede Mühe wert.
Es folgten erneut Schneepassagen rund um den Three Fingered Jack und durch den Jefferson Park, bevor wir auf Mount Hood zusteuerten.
Am 1. Juli, unserem 100. Tag auf dem PCT, erreichten wir die legendäre Timberline Lodge, direkt am Mount Hood gelegen. Die Lodge ist ein beliebter Zwischenstopp für PCT-Hiker. Dort wurde sogar noch Ski gefahren – mitten im Sommer!
Das Frühstücks- und Lunchbuffet der Lodge ist berüchtigt unter HikerInnen – natürlich liessen auch wir uns das nicht entgehen. Endlich wieder frisches Gemüse, reichlich Kalorien und ein bisschen Komfort.
Tags darauf erreichten wir Cascade Locks und damit die Grenze zwischen Oregon und Washington. Ein weiterer grosser Meilenstein: Der zweite Bundesstaat war geschafft.
Jetzt liegt nur noch Washington vor uns – mit deutlich mehr Höhenmetern, aber auch mit einigen der schönsten Landschaften des gesamten Trails.
So langsam wird mir bewusst: Kanada ist nicht mehr weit. Und ich freue mich auf alles, was noch kommt.
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